Fotograf Michael Martin: Reisen hilft, “Vorurteile zu korrigieren”

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Schon als 17-jähriger Hobby-Astronom fuhr er mit dem Mofa von Deutschland nach Marokko, um in der Wüste die Sterne zu fotografieren. Heute zählt Michael Martin (58, “Das Wesen der Wüste”) zu den renommiertesten Reisefotografen der Welt. In seinem neuen Buch “Die Welt im Sucher: Abenteuer eines Fotografen”, das am 22. September erscheint, blickt der gebürtige Münchner auf 40 Jahre Abenteuer zurück und zeigt einige seiner faszinierendsten Aufnahmen – von Wüsten und Eisregionen über Regenwälder bis hin zu Vulkanen.

Der diplomierte Geograf will jedoch nicht nur spektakuläre Fotos schießen, sondern auch aktiv auf weltweite Missstände wie den dramatisch fortschreitenden Klimawandel hinweisen. Wo auf der Welt er dessen Auswirkungen am deutlichsten wahrnahm und was ihn bei Besuchen in Krisengebieten wie Afghanistan am meisten erschütterte, verrät Martin im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news. Außerdem erklärt der 58-Jährige, was ihn an trockenen Wüstenlandschaften besonders fasziniert und warum er sich am 11. September 2001 plötzlich in einer gefährlichen Situation wiederfand.

Was bedeutete Ihnen das Fotografieren 1976, als Sie als 13-Jähriger ihre Leidenschaft entdeckten, und was bedeutet es Ihnen heute?

Michael Martin: Es war für mich immer ein Fenster zur Welt – als 13-Jähriger zu anderen Universen, denn ich habe damals viel im Bereich Astrofotografie gemacht und Galaxien und Planeten fotografiert. Über die Astrofotografie kam ich zum Reisen und habe zunächst in Afrika und später weltweit fotografiert. Die Kamera ist ein lebenslanger Begleiter geworden, der Tagebuch war und eine kulturelle Brücke geschlagen hat. Dank ihr musste ich auf Leute zugehen, um etwas von ihnen zu erfahren. Ohne die Kamera hätte ich das vielleicht nicht getan und ohne sie würde ich keine weltweiten Fernreisen unternehmen.

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In “Die Welt im Sucher” erzählen Sie Ihre Lebensgeschichte und blicken auf aufregende Jahrzehnte zurück. Was ist Ihre einprägsamste Erinnerung der vergangenen 40 Jahre?

Martin: In ein paar Momenten, die gar nicht unbedingt die spannendsten waren, sind ganz außergewöhnliche Fotos entstanden – ikonenhafte Bilder, die ich am Ende meines Lebens möglicherweise zu meinem Werk zählen werde. Hier war das Foto das Besondere, nicht die Situation. Es gab aber auch extrem intensive Situationen. 2003 habe ich zum Beispiel ein Opfer der Taliban in Afghanistan getroffen, dessen Geschichte mich so sehr berührt hat, dass ich nicht mehr fotografieren konnte. Stattdessen habe ich dem Mann geholfen und ihm eine Unterkunft und Kleidung besorgt. Diese Erlebnisse, bei denen keine besonderen Fotos entstanden sind, werden mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben. Wenn man 40 Jahre reist, gibt es Hunderte davon. Es ist schwer, eine einzige herauszugreifen.

Oder sich auf ein bestimmtes Fotothema festzulegen. Trotzdem haben Sie die Wüste zu Ihrem gemacht und alle Wüsten der Erde durchquert. Was fasziniert Sie an den schier endlosen, kargen Landschaften?

Martin: Als 17-jähriger Hobby-Astronom wollte ich die Sterne beobachten. Ich wollte den Südsternhimmel sehen und bin in den Schulferien nach der elften Klasse mit dem Mofa nach Marokko gefahren. Damals wurde meine Wüstenleidenschaft durch die Reduktion von Farben und Formen, die Anwesenheit von Nichts ausgelöst – ohne Vegetation und den Menschen. Ich empfinde das als ästhetisch, weshalb auch mein Wohnzimmer so aussieht. (lacht) Dann bin ich aber auch Geograf und in der Wüste lässt sich eine Art Erdgeschichte nachlesen. Man sieht, wie Gebirge und Sanddünen entstanden sind, und wo einmal Flüsse waren. Alles wird dort begreifbar, während in Europa entweder alles zugebaut oder überwuchert ist von Vegetation. Außerdem – und das hat mich als junger Mensch am meisten fasziniert – ist das Reisen in der Wüste schlicht abenteuerlich und cool.

Als Fotograf wollen Sie den Menschen nicht nur faszinierende Bilder liefern, sondern auch auf Missstände hinweisen. Sie unterstützen beispielsweise die UNO-Flüchtlingshilfe…

Martin: Ja, ich war immer nicht nur als Fotograf, sondern auch als Geograf unterwegs. Das habe ich studiert. Ich sage deshalb immer: Ich sehe mit den Augen des Fotografen und dem Wissen des Geografen. Man eignet sich im Studium an der Universität eine gewisse Weltsicht an, die es einem ermöglicht, Zusammenhänge zu erkennen. All unsere heutigen Themen, wie Nachhaltigkeit, Artensterben, Klimawandel und Nord-Süd-Konflikt, sind klare geografische Themen. Sie waren immer Teil meiner Arbeit.

Wo Sie gerade das Thema Klimawandel erwähnen: Im Jahr 2005 sprachen Sie bei der UN-Klimakonferenz im kanadischen Montreal. Wo konnten Sie die Auswirkungen des Klimawandels am deutlichsten erkennen?

Martin: In der Arktis und dort sind sie gleich zweifach sichtbar. Erstens nimmt die Meereseisbedeckung massiv ab. Ich war im Franz-Josef-Land am 80 Breitengrad, wo man früher auch im Sommer nur mit dem Eisbrecher hinkam. Heute kann man dort ohne ein eistaugliches Schiff herumschippern. Zweitens ziehen sich die Gletscher zurück. Eine andere Region, wo man die Auswirkungen deutlich sieht, sind die tropischen Gebirge im Himalaya und in den Anden. Dort ist der Klimawandel sehr viel brutaler sichtbar als in den Alpen. Die Gletscher schmelzen unter der Tropensonne fatal, was existenzielle Folgen hat. Während man sich in Deutschland beschwert, nicht mehr Gletscherskifahren zu können, haben die Bauern dort schlicht und ergreifend das Problem, kein Wasser mehr zu haben, um ihre Ländereien zu bewässern.

Auch in Krisengebieten waren Sie viel unterwegs. Was hat Sie dort am meisten erschüttert?

Martin: Die dramatischen Bedingungen, unter denen Menschen leben und ihre Kinder aufziehen müssen. Uns in Europa sind die Zustände in Städten und ländlichen Gebieten weltweit überhaupt nicht bewusst. Wir jammern auf aller höchstem Niveau und Dinge wie eine Krankenhausversorgung, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit und eine gute Infrastruktur kann man gar nicht genug schätzen. Manchen von uns würde ein wenig Demut deshalb gut zu Gesicht stehen. (…) Wir sollten uns bewusst machen, wie es in anderen Teilen der Welt aussieht und den sogenannten Süden nicht komplett vergessen.

Wie entscheiden Sie denn, ob ein Land sicher genug ist, um dorthin zu reisen?

Martin: Nun, man schaut zuerst einmal auf die Webseite des Auswärtigen Amts. Gewisse Länder muss man meiden, denn dort gibt es gewisse “No-Go-Areas”. Dazu gehören Länder im Nahen Osten oder beispielsweise Afghanistan. Bestimmte Gefahren, wie überfallen zu werden, lassen sich aber auch durch gute Planung nicht ausschließen. Im Grunde genommen sind zwei Dinge wichtig: Intuition beziehungsweise ein Gefühl dafür, was gefährlich sein könnte, und ein permanentes Fragen – nicht nur über das Auswärtige Amt, sondern auch im Land selbst. Ist die Strecke sicher? Kann ich da lang fahren? Manchmal muss man dann eben eine andere Route nehmen.

Sicher haben Sie trotz alledem gefährliche Situationen erlebt.

Martin: Natürlich gab es ein paar, aber ich sage immer: Das Gefährlichste ist die deutsche Autobahn! (lacht)

Die vielen negativen Nachrichten lassen die Welt oftmals als unsicheren, unfreundlichen Ort und Menschen als feindlich erscheinen. Wie bewahrt man sich trotzdem seinen Abenteurergeist?

Martin: Meiner Meinung nach ist die Welt nicht unsicherer als früher. Natürlich gibt es Regionen, die man tunlichst meiden sollte. Man darf sich aber auch nicht vom Gerede der Nachbarn abschrecken lassen. Man muss sich informieren, aber es gibt keinen Grund, zu Hause zu bleiben. Ich rate jedem jungen und alten Menschen dazu, raus in die Welt zu ziehen, wenn die Corona-Pandemie vorbei ist. Denn Reisen ist eine wunderbare Art und Weise, um Vorurteile zu korrigieren, das eigene Leben einzuordnen und demütig zu werden. Reisen bildet und es lohnt, die eigene Trägheit oder seine Ängste zu überwinden.

In Ihrem Buch erzählen Sie auch, wie Sie die Terroranschläge vom 11. September 2001 vor 20 Jahren erlebt haben.

Martin: Ja. Damals war ich gerade (aus China) nach Pakistan eingereist und plötzlich bestand die Gefahr, dass die Grenzen nach Indien geschlossen werden. Ich musste also innerhalb von 24 Stunden versuchen, dort wieder rauszukommen – und es gelang gerade so. Es war ein unsicheres Gefühl, da man keine Informationen hatte. In solche Situationen kann man eben geraten. Dafür, dass ich 40 Jahre Reisen unternommen habe, kam so etwas aber erstaunlich selten vor.

Und das, obwohl Sie am liebsten so wenig wie möglich im Voraus planen und buchen, wie Unterkünfte, Mietwagen und Dolmetscher.

Martin: Ja, denn im Grunde planen sich meine Reisen durch die Fotos von selbst. Wenn ich in ein anderes Land fahre, dann nicht, um mich zu erholen, sondern um Bilder und Geschichten mit nach Hause zu bringen. Natürlich weiß ich grob, in welche Richtung ich möchte und was ich ungefähr ansteuere, aber der Tagesablauf bestimmt sich durch die Motive, das Licht und die jeweilige Situation. Ich kann am Morgen niemals sagen, wo ich am Abend schlafe. Habe ich beispielsweise in der Mongolei eine tolle Begegnung mit einer Familie mit einer Jurte, dann bleibe ich dort. Dadurch, dass ich sowieso keine Hotels ansteuere, sondern im Zelt oder im Auto schlafe, bin ich flexibel. Alle Dinge, die man mit Komfort und Urlaub verbindet, lasse ich außen vor. Das mache ich lieber in Italien.

Machen Sie dort am liebsten Urlaub?

Martin: Ich bin totaler Italien-Fan und halte mich sehr viel in der Natur auf. Gerade nehme ich an einem Fernwanderprojekt teil, das sich in 65 Etappen von der Schweizer Grenze bis ans Mittelmeer erstreckt. Das ist für mich Erholung.

Wobei Sie doch sicher auch dort Fotos machen.

Martin: Nein, eben nicht. Ich mache nur mit dem Handy ein paar Erinnerungsbilder. Ich mache da einen sehr strikten Unterschied zu meinen Reisen mit Fotokamera. Sie sind kein Urlaub und ich habe keine Kumpels dabei, höchstens einen zweiten Fotografen.

Kam Ihnen bei so vielen privaten und beruflichen Reisen jemals der Gedanke ans Auswandern – oder sind sie immer gerne wieder in die deutsche Heimat zurückgekehrt?

Martin: Der Gedanke kam nie. Ich bin sehr heimatbezogen und es war für mich nie eine Option, wegzugehen. Ich bin hier geboren und habe meine Freunde, meine Familie, den Verlag und meine Mitarbeiter hier. Stattdessen habe ich versucht, beides zu vereinen – das normale Leben in Deutschland und das wilde Leben auf Reisen.

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