Das ausdrucksstarke Gesicht, die klare Stimme, der offene Blick, ihr humorvolles, freundliches Wesen. Eigenschaften, die über das alltägliche Anforderungsprofil einer Schauspielerin hinausgehen – und die heute schmerzlich vermisst werden.
Mareike Carrière wurde dadurch zu einer unverstellten Künstlerin, wie sie heute auf Bühnen und am Filmset selten geworden ist. “Sie vermochte ihren Charakteren eine Natürlichkeit und zugleich eine Feinheit zu geben, die in den meisten Drehbüchern nicht unbedingt angelegt waren”, so formulierte es der Journalist Giovanni di Lorenzo (65), Chefredakteur der “Zeit”, in seinem Nachruf auf die gute Freundin. Am 17. März vor zehn Jahren ist Mareike Carrière gestorben. Sie wurde nur 59 Jahre alt.
Mit “Großstadtrevier” wird sie zum Serienliebling
Das Publikum wird sie in erster Linie als Polizistin Ellen Wegener aus dem “Großstadtrevier” sowie als Dr. Katrin Brockmann aus der “Praxis Bülowbogen”, zwei ebenso populäre wie erfolgreiche ARD-Serien, in Erinnerung behalten. Diese TV-Auftritte zeigten jedoch nur einen Bruchteil der Persönlichkeit dieser außergewöhnlichen Schauspielerin, die einer ebenso außergewöhnlichen Familie entstammt.
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Mareike Carrière ist die Tochter des bekannten Psychiaters und Nervenarztes Bern Carrière (1921-2015), der aus einer hugenottischen Familie kam. Der Zoologe Prof. Justus Carrière (1854-1893), der Komponist und Musikpädagoge Paul Carrière (1887-1929), der Schriftsteller und Philosoph Moriz Carrière (1817-1895) sowie der Chemiker Prof. Justus Liebig (1803-1873) sind Vorfahren.
Die drei Kinder des Psychiaters Bern Carrière und seiner Frau, der Psychoanalytikerin Jutta Carrière, werden allesamt Schauspieler: Mathieu Carrière (73), der älteste Sohn, macht sogar eine internationale Karriere. Der zwei Jahre jüngere Till Carrière absolviert das Max Reinhardt-Seminar in Berlin, wo sein grandioses komisches Talent auffällt und ihn der Kultregisseur Peter Zadek (1926-2009) an das Schauspielhaus Bochum holt. 1978 nimmt sich der junge Mann, der an einer manisch-depressiven Erkrankung leidet, mit 26 das Leben.
Dieser Selbstmord hat bei Mathieu Carrière und seiner vier Jahre jüngeren Schwester Mareike “ein Trauma” ausgelöst. In einem Doppelinterview mit der “Bild”-Zeitung sagt Mathieu 2011, “du brauchst ein ganzes Leben, um so etwas einigermaßen zu verarbeiten”.
Ein Geschwisterpaar mit internationalen Erfolgen
Mareike Carrière geht bereits mit 16 Jahren in Lübeck auf die Schauspielschule, nach dem Abschluss holt sie ihr Abitur nach und zieht nach Paris. Dort hat sich bereits ihr Bruder Mathieu etabliert, der neben seinem Philosophiestudium an der Sorbonne zum Jungstar des französischen Films avanciert ist und mit berühmten Kollegen wie Orson Welles, Yves Montand und Romy Schneider sowie mit Regisseuren wie Eric Rohmer, Roger Vadim, Marguerite Duras und Louis Malle gearbeitet hat.
Auch Mareike Carrière studiert an der Pariser Universität Sorbonne, Englisch und Französisch, macht ihr Diplom als Übersetzerin – und wendet sich dem Film zu: 1978 spielt sie unter der Regie von Bernhard Sinkel (84) bei der Verfilmung von Joseph von Eichendorffs Novelle “Aus dem Leben eines Taugenichts” mit. Es folgen im gleichen Jahr “Ein Mann kommt in die Jahre” (Regie: Gérard Blain) und das Nazi-Drama “Flamme empor”, für das sie den Kritikerpreis bekommt.
Als sie 1981 von Paris nach Berlin zieht und (in erster Ehe) den Filmproduzenten Joachim von Vietinghoff (82) heiratet, ist Mareike Carrière bereits eine ernsthafte Schauspielerin mit ersten internationalen Erfolgen. Sie spielt nun an Berliner Theatern, dreht weiterhin Filme, macht eine weitere Ausbildung zur Atempädagogin.
Immer wieder kreuzen ihre Berufswege die ihres seinerzeit ungleich bekannteren Bruders. Beide spielen in außergewöhnlichen Filmen wie “Yerma” oder “Marie Ward – Zwischen Galgen und Glorie”, in “Zugzwang” führt Mathieu Carrière Regie.
“Ich hätte manchmal gern mehr von Mareikes Selbstwahrnehmung”
Bei allem schauspielerischen Talent und einem gemeinsamen Sternzeichen – Löwe, Aszendent Jungfrau – ist es doch ein ziemlich unterschiedliches Geschwisterpaar: Er temperamentvoll bis aufbrausend, ein Mann, der sich scheinbar lustvoll zwischen hoher Kunst, Boulevard und Trash bewegt, der eigentlich Philosoph mit Universitätsabschluss und Autor eines großartigen Standardwerks über Heinrich von Kleist ist. Sie, die ruhige Schwester, überlegend, bescheiden und hinterfragend, mit Konstanz und Geduld.
“Ich hätte manchmal gern mehr von Mareikes Selbstwahrnehmung. Sie ist diejenige, die sich dauernd häutet und es schafft, sich zu entwickeln”, sagt er über sie. Mareike antwortet gleichmütig: “Ich bin einfach neugierig. Und ich finde, je mehr verschiedene Dinge ein Schauspieler kann, desto besser ist er. Daraufhin sagt er, sie besitze “mehr Schamgefühl, mehr Würde. Sie ist die Klügere und die Emotionalere von uns beiden.”
Sie spielt die erste Streifenpolizistin Deutschlands
Mit diesen Gaben gibt sie auch vermeintlich oberflächlich angelegten Rollen die richtige Tiefenschärfe. Als sie 1986 im “Großstadtrevier” die erste Streifenpolizistin Deutschlands wird, hat sie zuvor bei der Polizei hospitiert und Schießen und Karate gelernt.
Mareike Carrière bewegt sich im gesamten Spektrum ihrer Branche. Sie spielt in der Jugendserie “Die Schule am See”, wirkt für ProSieben am Comedy-Format “Was nicht passt, wird passend gemacht” mit und arbeitet andererseits bei der Verfilmung des Grass-Romans “Unkenrufe” mit oder beim mehrfach ausgezeichneten ARD-Film “Das Mädchen aus der Fremde”. Und sie spielt immer wieder Theater, geht mit dem Stück “Die 7 Todsünden” auf Deutschlandtournee.
Inzwischen lebt sie in Hamburg, in zweiter Ehe (die ebenfalls kinderlos bleibt) mit dem Zahnarzt Gerd Klement verheiratet, ihr geliebter Bruder Mathieu wohnt auch zeitweise in der Hansestadt. Mareike Carrière spielt Theater, geht auf Tournee und arbeitet – nach einer weiteren Ausbildung – als systemischer Coach. 2012 wird sie krank. Blasenkrebs.
Sie erliegt dem schweren Kampf gegen Krebs
Zwei Jahre lang beherrscht die Krankheit ihr Leben. Hoffnung und Zuversicht wechseln mit Erschöpfung und Kraftlosigkeit. Sie wird unter anderem Namen in Kliniken behandelt, doch sie dreht an der “Frühlings”-TV-Serie des ZDF, trägt nun eine Perücke, und wenn sie mal schwächelt, sagt sie: “Mir ist nur ein bisschen flau.” Vor allem versucht sie, ihre Familie nicht mit ihrer Krankheit zu belasten.
2014 hat der Krebs diese starke Frau besiegt, am Ende sind die Metastasen überall im Körper. Am 17. März 2014 stirbt sie im Kreise ihrer Familie. Bei der Trauerfeier in Hamburg sind neben dem Ehemann, Freunden und Kollegen auch der Vater Bern Carrière, der an ihrem Todestag seinen 93. Geburtstag hat und nun seine Tochter beerdigen muss, sowie der Bruder Mathieu, der um den “wichtigsten Menschen in meinem Leben” weint.
Er sagt, der Abschied sei für ihn sehr schwer, “aber für sie war es schwerer”. Für ihre Trauerfeier habe sie zwei Anweisungen gegeben: ihre Asche in die Lieblingsteekanne zu füllen und “Champagner für alle”. Am Ende steigen weiße Luftballons in den Himmel, wie es einem “fröhlichen Abschied” entspricht. So wie es sich Mareike Carrière gewünscht hat.
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